Vor einigen Tagen unterhielt ich mich mit jemandem, der eine längst verblasste Erinnerung wieder lebendig werden ließ. Mittlerweile ist es knapp zwanzig Jahre her, dass ich in Köln als stellvertretender Regionalleiter für die Firma EVORA tätig war. In jungen Jahren durfte ich in der Domstadt erfahren, wie wertvoll es sein kann, auf Menschen positiv und offen zuzugehen und was es bedeutet, wenn man sagt, dass man sich im Leben immer zweimal sieht.
Wie eine kleine Geste mein Leben schützte

Ich bin frisch gebackener stellvertretender Regionalleiter in Köln. Fahre jeden Tag um 7:00 Uhr von Wermelskirchen mit dem Zug nach Köln. Von dort mit dem Taxi oder der U‑Bahn ins Büro. Und spätabends wieder mit der Bahn zurück nach Wermelskirchen.
Im Bahnhof musste ich immer einige Minuten auf den Zug warten. Die Zeit vertrieb ich mir mit Gesprächen mit Passanten oder einer Zeitung – zu dieser Zeit gab es noch keine Smartphones, die uns vom Miteinander entfremden.
Eines Tages stieg ich in den Zug ein und setzte mich gegenüber eines Teenagers hin. Der Schaffner kam kurz darauf und wollte das Ticket prüfen, was mich immer aus meinen Gedanken riss. Ich übergab ihm die Fahrkarte, die er entwertete und ich wollte gerade wieder in meine Gedankenwelt abtauchen, als ich bemerkte, wie unruhig mein Gegenüber wurde.
Die Kontrolle verlief bei dem Jungen holprig und es stellte sich heraus, dass er keine gültige Fahrkarte mitführte. Gerade als der Schaffner bestimmter wurde, stand ich auf und rügte den Jungen: „Lass’ den Unfug. Sage ihm, dass du zu mir gehörst und halte ihn nicht unnötig von der Arbeit ab!“ Dann entschuldigte ich mich für meinen „Cousin“ beim Zugbegleiter und verwies auf meine Karte, mit der ich bis zu fünf Personen mitnehmen durfte.
Als der Kontrolleur ins nächste Abteil ging, sprach mich der Junge an, warum ich das getan hätte. Ich antwortete, dass ich ihn sympathisch finde und jeder mal Fehler mache. Wir unterhielten uns und er berichtete davon, dass er in einer gefährlichen Gang sei. Ich tat es als Gerede von einem pubertierenden Teenager ab, der sich wichtig machen wollte.
Einige Tage später hatte ich das alles bereits vergessen. Inmitten vom Trubel mehrerer Seminare, die ich halten sollte, vergaß ich im Büro meinen Aktenkoffer.
Das bemerkte ich am Bahnhof, als ich mir eine neue Bahnkarte kaufen wollte. In ihm befand sich unter anderem meine Geldbörse und mein Schlüssel. Ich ärgerte mich sehr über mich selbst und verpasste den letzten Zug des Tages, der Richtung Heimat fuhr. Mit der Aussicht darauf, eine Nacht auf dem Bahnhof verbringen zu müssen, tappte ich ziellos durch die Hallen.
Da stand ich nun. Ohne Geldbörse. Dafür mit viel Frust. Ich muss ziemlich armselig in meinem Anzug ausgesehen haben zu diesem Zeitpunkt. Während ich noch mit Fluchen beschäftigt war, kam mir eine Gruppe Jugendlicher entgegen. Meine Ohren vernahmen, wie sie grölten: „Sieh mal! Ein Anzugträger. Den knöpfen wir uns vor.“ Erst jetzt realisierte ich, dass ich alleine um ein Uhr nachts am Gleis stand. Mein Herz reagierte sofort und beschleunigte seinen Rhythmus für einen schnellen Sprint. Doch hinter mir war nur eine Wand, der einzige Ausgang führte an der aggressiven Gruppe vorbei.
Dann hörte ich, wie jemand schrie: „Hey. Der ist in Ordnung. Lasst ihn in Ruhe.“ Da stand jemand vor mir und ich erkannte meinen „Cousin“, den ich vor ein paar Tagen vor dem entdeckten Schwarzfahren rettete.
Wir unterhielten uns kurz, dann gingen sie weiter. Ich stand noch unter Strom, doch nach einiger Zeit realisierte ich, dass alles gut ausgegangen ist. Und dass am Sprichwort „Man sieht sich im Leben immer zweimal“ etwas dran ist.
Der Obdachlose – Wie Begegnungen unser Leben verändern
Ich schlenderte durch den Bahnhof und war unzufrieden. Mit dem Leben und mir. Zudem hatte ich Hunger und Durst. Und selbst für eine Telefonzelle hatte ich keine Münzen dabei.

Ein Obdachloser sprach mich an und ich setzte mich zu ihm. Wir kamen ins Gespräch und ich berichtete von meinem Erlebnis. Er bot mir ein Bier und Bockwürstchen an. Es war wie unter Kumpels. Als würden wir uns lange kennen und wir plauderten die Nacht durch, bevor ich mich auf dem Weg zum Büro machte, in der Hoffnung meine Mitarbeiter seien schon vor Ort und lassen mich hinein. Ich erfuhr von dem Mann, dass er Arzt gewesen ist. Nach einem selbst verschuldeten Autounfall verlor er Frau und Kinder und er fing an zu trinken. So landete er auf der Straße und lebte seitdem ohne Obdach.
Ich bot ihm einen Job an und wollte ihm auf die Beine helfen, doch er verneinte. Unsere Wege trennten sich. Ich übergab ihm meine Visitenkarte und bat ihn ins Büro zu kommen, damit ich mich erkenntlich zeigen kann; doch er kam nie.
Wenige Monate später entdeckte ich ihn wieder am Bahnhof.
Direkt ging ich auf ihn zu und es war wie einen lang nicht getroffenen Freund wiederzusehen.
Ich meinte zu ihm, dass ich mich noch bedanken wolle und fragte ihn, womit ich ihm eine Freude machen könne. Da blickte er lächelnd zum McDonald’s und teilte mir mit, dass er gerne dort etwas essen wolle.
So gingen wir gemeinsam ins Restaurant und ich bat ihn, sich schon mal anzustellen und sich etwas zu bestellten. Derweil wollte ich zur Toilette.
Als ich von der Toilette kam, war er weg. Traurig ging ich aus dem Laden und entdeckte ihn im Gemenge. Ich sprach ihn an und er erörterte, was geschehen war: Er wurde des Ladens verwiesen.
Empört nahm ich ihn bei der Hand und ging zum Tresen. Ließ den Geschäftsführer vorstellig werden und fragte, wie es sein könne, dass meine Gäste einfach herausgeworfen werden? Dem ehemaligen Arzt war es unangenehm, doch ich bestand darauf, dass eine Entschuldigung bei ihm landete. Wir müssen urig ausgesehen haben; ich im Anzug und er, wie man nach einigen Jahren mittellos auf der Straße so aussieht.
Er bestellte sich ein kleines Menü und bedankte sich bei mir. Doch das war unnötig. Hatte er mich doch gelehrt, wie wichtig es ist, Augen und Ohren offenzuhalten, für diejenigen, die Hilfe bedürfen. Teilte er schließlich seinen bescheidenen Vorrat an Lebensmitteln mit mir, ohne Gegenleistung zu fordern.
Die Wege trennten sich und weder ihn noch den Jungen sah ich jemals wieder. Doch beide haben mich viel gelehrt.
So lernte ich, dass auch die bösen Buben normale Menschen sind. Und kennt man sie, sind es Menschen wie du und ich. Sie verhalten sich oftmals korrekt, wenn sie mit Respekt behandelt werden.
Ebenfalls lernte ich, dass diejenigen, die wenig haben, gerne geben. Hilfsbereitschaft in beide Richtungen gehen und dass ein Schicksalsschlag ein vermögendes Leben zunichtemachen kann.
Diese Lektionen in jungen Jahren prägten mein weiteres Leben. Sie machen einen Teil meines Daseins als „Sozialarbeiter“ und „Psychologe“ aus, wie ich von Kollegen mitunter genannt werde.
Lehrten mich, dass hinter jeder Person eine Geschichte steckt. Und wenn wir diese Geschichte kennen, dann haben Vorurteile und Berührungsängste keine Chancen mehr.
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